Ein Gespräch mit Ragnhild A. Mørch über die Kunst des Erzählens und darüber, warum das mündliche Erzählen in den heutigen Zeiten immer wichtiger wird – mit all den komplexen Themen unserer Gesellschaft. Am Berlin Career College werden im Zertifikatskurs „Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education“ unter ihrer Leitung Erzähler*innen ausgebildet – mit einer besonderen Verantwortung.

Mit freundlicher Genehmigung der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Der Beitrag erscheint in gekürzter Version im Märchenspiegel 3/2025; Jg. 36.

Ragnhild A. Mørch © Soremski

Wie bist du zum mündlichen Erzählen gekommen, und wie würdest du Deine Arbeit mit Erzählkunst beschreiben?

Ich habe einen breiten beruflichen Hintergrund: ich komme sowohl aus der Theaterregie, als auch aus dem Schauspiel, aus der Pantomime und der Theaterpädagogik. Mündliche Erzählkunst habe ich im Studium in Oslo kennengelernt und war begeistert. Es dauerte allerdings noch einige Jahre, bis ich zum Vorteil des Erzählens das Theater „an den Nagel hing“. Als ich mich dann auf das Erzählen konzentrierte, wurde klar: im Erzählen werden alle meine Bereiche zusammengeführt, und ich kann mein breites Interesse für Darstellende Kunst anwenden. Alles fügt sich quasi zusammen wie ein Spinnennetz, und in der Mitte befindet sich die Erzählkunst. Als Erzählerin bin ich Performerin, meine eigene Regisseurin und Autorin, die Ausbildung in Pantomime findet in der spezifischen Körpersprache ihren Platz, und auch meine Liebe zu Sprachen kann ich ausleben.

Als ich vermehrt Erzählprojekte durchführte, war ich vor allem in Grundschulen unterwegs. Gleichzeitig entstanden Langzeit-Schulprojekte, in denen ich in denselben Klassen über einen längeren Zeitraum erzählte, sowohl in Grundschulen als auch in einer Sekundarschule für Schulaussteiger. Das Repertoire richtete sich nach der jeweiligen Klassenstufe und dem Curriculum. Ich eignete mir also viele Geschichten an, je nach Alter und nach Thema, was auch immer gerade an Erzählstoff gebraucht wurde; Sprachkompetenz in Englisch – damals lebte ich in London – Geschichte oder eher in Richtung soziale Fragen wie Freundschaft oder ausgegrenzt sein. So entstand ein großes Repertoire, mit dem ich nach und nach frei „jonglieren“ konnte, je nach Publikum und Bedarf. In einer Schule entstand mit einer Kunstlehrerin ein transgenerationales Erzählprojekt. Großeltern kamen in die Schule und haben mit ihren Enkelkindern gemeinsam gewirkt. Zu den Geschichten, die ich erzählte, haben die Kinder mit den Großeltern Collagen mit unterschiedlichsten Stoffen, Papier, Federn oder Perlen gebastelt und anhand ihrer Bilder die Geschichten wiedererzählt. Gerade auch bei Kindern, für die Sprache und Sprechen eine besonders große Herausforderung war, wurde das gemeinsame Kreieren von Bildern der Ansporn, auch beim Nacherzählen teilzunehmen, weil sie die Geschichte mit ihren eigenen Bildern erzählen konnten.

Im Zuge einer Auftragsarbeit in Norwegen, bei der ich ein Programm über Gender und Identität erarbeitete, änderte sich mein Fokus. Ich begann Erzählprogramme für ältere Schüler*innen und Erwachsene zu entwickeln, vor allem auch Vorstellungen mit komplexer Dramaturgie. Die Komponente des mündlichen Erzählens, die es Erzähler*innen möglich macht, am Abend der Erzählveranstaltung je nach Publikum frei zu entscheiden, welche Geschichte erzählt werden soll, wurde damit herausgenommen. Bei komplexer Dramaturgie ändert sich die Geschichtenwahl nicht grundlegend. Die improvisatorische Komponente des Erzählens bleibt derweil bestehen und zwar im möglichen Dialog mit dem Publikum und in der Sprachgestaltung.

Seitdem verknüpfe ich historisches, traditionelles und autobiografisches Material in meinen Kernprogrammen miteinander. Zum Beispiel erzähle ich von der deutsch-norwegischen Geschichte im und nach dem 2. Weltkrieg aus der Perspektive meiner eigenen, bi-nationalen Familie und der direkt betroffenen Generationen.  Zudem beschäftigt mich, wie auch in dem Programm über Gender und Identität der Fall, die Frage, wie einzelne Menschen von außen „gelesen“ und bewertet werden. So erarbeitete ich ein Programm entlang der Frage: Welche Bedeutung hat „weiß-europäische Sozialisierung“? Themen, die mit Diskriminierungsstrukturen in unserer Gesellschaft zu tun haben,  sind für mich wichtig, gerade auch im Hinblick auf die Frage; wie lesen wir Geschichten und deren Bilderwelten?

In den traditionellen Geschichten können wir alle uns als Menschen betreffende, prekäre Themen finden und herausarbeiten. Gleichzeitig sind die Geschichten der Mündlichkeit verschriftlicht und so in einer bestimmten, niedergeschriebenen Version erst einmal „eingefroren“ worden. So sind z.B. in Märchen auch Zuschreibungen überliefert worden, die wir mit unserem heutigen Wissen über gesellschaftliche Strukturen neu betrachten können. Für mich geht es dabei um die Haltung dahinter und die Frage: warum ist die Welt so, wie sie ist, und warum gibt es in ihr keine Gleichberechtigung für alle? Wenn man sich die traditionellen Geschichten mit diesem Ansatz anschaut, kann man anders mit Zuschreibungen umgehen, die etablierte Diskriminierungsstrukturen verstetigen.

Wird also das Erzählen in der heutigen Zeit immer wichtiger?

Ja. Das mündliche Erzählen hat eine Kraft inne auf Grund der direkten, dialogischen Begegnung – eine Begegnung zwischen den Erzählenden und den Zuhörenden im Hier und Jetzt. In diesen Zeiten geht dieser Teil des Zusammenseins oft verloren. Und wir brauchen eine Sprache und Geschichten, die die Komplexität der heutigen Gesellschaft erfassen – und auch kritisieren können. Es braucht jetzt eine andere Form von Courage. An so vielen Stellen sehen wir, dass die Demokratie wackelt – und wenn es dann zu spät ist, können wir nichts mehr tun, als nach uns aufzuräumen. Das Erzählen in sich ist eine besonders starke demokratische Form: denn damit können „alle“ erreicht werden. Umso unverständlicher war es, als dem  2. Internationalen Erzählfestival „Imagine! 2025“ kurz vor Festivalstart die Förderung für die Stadt Leipzig komplett gestrichen wurde – einem Erzählfestival, das durch Geschichten das Reflektieren der Gegenwart ermöglicht und dadurch ermutigt, auch ins Handeln zu kommen. Nur durch unermüdliche Zusatzarbeit der Festivalleitung konnte die Finanzierung doch noch gesichert und das Festival durchgeführt werden. 

Ist das auch etwas, worauf Du bei der Weiterbildung „Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education“ Wert legst? Sicher gibt es auch dort Entwicklungen, denn dieser Zertifikatskurs besteht nun seit 14 Jahren.

Kristin Wardetzky © Holger Talinski

Seit 14 Jahren… da lohnt es sich einmal inne zu halten. Im Januar beginnt tatsächlich schon der achte Durchgang des Zertifikatskurses. Wer hätte das gedacht! Dank des unermüdlichen Einsatzes von Prof. Dr. i.R. Kristin Wardetzky war es überhaupt erst möglich die Weiterbildung 2011 ins Leben zu rufen. Aber auch bei der Refinanzierung, Durchführung und fachlichen Weiterentwicklung ist sie maßgeblich involviert gewesen. Ohne sie, gäbe es den Zertifikatskurs im mündlichen Erzählen nicht –ein Alleinstellungsmerkmal der Universität der Künste Berlin. Fantastisch!

Was die Entwicklungen angeht: unbedingt. Wir brauchen mehr denn je, so fühlt es sich an, jetzt die Fähigkeit, miteinander lernen und reden zu können. Auch über die komplexen und schwierigen Themen unserer Gesellschaft. Und Kunst, die wir auf die Bühne bringen, sollte sich unbedingt auch damit auseinandersetzen können. Und gerade, weil wir Erzähler*innen sind und Erzähler*innen ausbilden, haben wir eine Verantwortung. Wir sprechen vor großem Publikum, wir erzählen Kindern und Jugendlichen. Wir können mit dem, was wir erzählen, Menschen aufrütteln oder einlullen. Mündliches Erzählen ist ja Sprache und Sprechen in Bildern. Ein Charakteristikum von Erzählungen, ob Hollywoodfilme oder Märchen, ist das Nutzen von Stereotypen und klaren Gegensätzen: Gut und Böse, Reich und Arm, Stark und Schwach. Geschichten leben davon mit unterschiedlicher Ausprägung. Mit den Geschichten, die wir erzählen, vermitteln wir Lebensrealitäten, manchmal unsere eigene, aber vor allem auch die Lebensrealitäten anderer. Aber was heißt das eigentlich? Was sind das für Lebensrealitäten?

Es gibt unterschiedliche Fragen, die in dem Zusammenhang vor und bei der Erarbeitung einer Geschichte hilfreich sind: Was weiß ich über die Kultur oder dem Land, aus der die Überlieferung der Geschichte stammt? Wer hat die Geschichte überliefert / aufgezeichnet? Welche Beziehung hatte mein Land oder meine Kultur zu dieser Kultur zur Zeit der Aufzeichnung? Welche hat sie heute? Was weiß und denke ich über die Kultur? Was sind einige der stereotypischen Bilder – ausgesprochene und unausgesprochene, die mit dieser Kultur verbunden sind?

Manche Stereotypen lassen sich inzwischen vielleicht als problematisch entdecken. Müssen wir dann etwas ändern? Ein wichtiges Thema in unserer Weiterbildung ist daher auch der Ansatz des Social Justice und Radical Diversity. Er bietet die Möglichkeit, in gemeinsamem Austausch unterschiedliche Perspektiven zu reflektieren. Dadurch können etablierte, historisch und gesellschaftlich-bedingte Stereotypen erforscht und thematisiert werden, um Diskriminierung als deren Auswirkungen zu verstehen. Diese Grundlagenarbeit ermöglicht es uns, unsere Geschichten und die Personen in ihnen anders kennenzulernen. Der Prozess lädt gleichzeitig dazu ein, unsere eigene Position zu hinterfragen und vielleicht sogar zu verändern, um so Menschen in ihren Unterschiedlichkeiten anerkennen zu können. Für diesen Prozess setzen wir einen Trainingsrahmen, in dem wir miteinander lernen und handeln können. Fragen stellen, Fehler machen, Unsicherheiten ansprechen und Heiter scheitern, gehört zum Lernprozess dazu. Die Methoden des Ansatzes sorgen für einen wertschätzenden, respektvollen Umgang miteinander, ohne einander zu beschämen. So möchten wir gemeinsam ein Bewusstsein für die Wirkmächtigkeit von Sprache und Bildern schaffen, um das Erzählen diskriminierungskritisch und diversitätssensibel für alle Menschen weiterzuentwickeln.

Was macht diese Weiterbildung außerdem so spannend/besonders?

Die Weiterbildung am Berlin Career College fokussiert sich auf das freie mündliche Erzählen traditioneller Geschichten, wie Märchen und Mythen. Das Erzählen behält eine Ebene der Improvisation, weil die Sprache nicht dem schriftlichen Text folgt. Die Kursteilnehmer*innen erarbeiten sich die Varianten ihrer Geschichten basierend auf den Ergebnissen ihrer Recherchen – mit ihren eigenen Worten, ihren inneren Bildern und den jeweils sehr persönlichen, emotionalen Zugängen. Die Teilnehmer*innen sind dadurch Vieles in Einem: Erzähler*innen, Performer*innen, Dramaturg*innen und Regisseur*innen. Während der Weiterbildung gibt es mehrfach die Möglichkeit, die erarbeiteten Geschichten vor ein Publikum zu bringen, ob in Schule, Institutionen oder durch ein gemeinsames Festival für Familien und die Erzählerfahrungen im Nachhinein zusammen mit dem Dozentinnen-Team zu reflektieren und zu evaluieren.

Die Weiterbildung enthält regelmäßiges Stimmtraining, Tanz und Rhythmik-Einheiten und bietet fundierte, theoretische Einblicke in unterschiedliche Aspekte der mündlichen Erzähltradition. Ein vielfältig-kompetentes Dozent*innen-Team leitet die Seminare der Erzählpraxis. Im nächsten Durchgang vervollständigen die Erzählerinnen Mimesis Heidi Dahlsveen aus Norwegen und Clare Murphy aus Irland/USA das Team.

Die nächste Ausgabe beginnt im Januar 2026; Bewerbungen sind bis zum 26.Oktober möglich. Und wer einmal „vorschnuppern“ möchte: am 11. Oktober gibt es eine Sneak Peek. Ich freue mich schon sehr darauf!

Danke an die Märchen-Stiftung Walter Kahn.

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