Für ein Gespräch trafen wir Prof. Susanne Bauer, Studiengangsleiterin des Masterstudiengangs Musiktherapie am Berlin Career College der Universität der Künste Berlin. Sie gibt Einblicke in das Studien- und Berufsfeld, erzählt über Veränderungen während der Pandemie und von einem wichtigen Gemeinschaftsgefühl in Zeiten der Krise. Am 26. Februar fand ein Informationstag für den Studiengang statt, der auf reges Interesse stieß: Über 60 Interessierte nahmen an Vorträgen und Workshops teil. Auch wir haben den Tag zum Anlass genommen, mehr über Musiktherapie zu erfahren.   

Susanne Bauer © Pascal Coulon

Liebe Frau Prof. Bauer – schön, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch nehmen. Möchten Sie sich in Ihren eigenen Worten kurz vorstellen?

Mein Name ist Susanne Bauer, ich bin Musiktherapeutin im Erstberuf, habe Psychologie studiert und eine Zusatzausbildung zur Familien- und Paartherapeutin gemacht. Dann wurde ich an der Universität Ulm promoviert. Ich habe viele Jahre in Chile gelebt, dort einen Musiktherapie-Studiengang aufgebaut und diesen geleitet.

Von 1991 bis 2008 war ich im Ausland und bin dann hierhergekommen, um die Leitung des Master-Studiengangs zu übernehmen. Den Masterstudiengang gab es seit 2007 und die Vorgängerin war erkrankt. Ich wollte ohnehin nach Deutschland zurück und hatte das Glück, eine Vertretungsprofessur zu bekommen. Daraus wurde eine Gastprofessur und im Jahr 2014 bin ich im Berufungsverfahren zur ordentlichen Professorin berufen worden.

Ich beschäftige mich seit jeher klinisch mit erwachsenen Patienten in der Psychiatrie und in der Psychosomatik, das ist mein Schwerpunkt in der Musiktherapie. Ich habe dazu auch veröffentlicht und gehe nach wie vor – trotz Leitung des Studienganges – in eine Klinik und mache dort Gruppen- und Einzel-Musiktherapie.

Das heißt Sie erleben selbst auch noch die therapeutische Praxis.

Ja, das bereichert auch den Unterricht. Ich kann den Studierenden immer davon erzählen oder bringe Fallbeispiele mit und kann so meine Theorie schnell mit der Praxis abgleichen. Das ist von Vorteil.

Musiktherapie © Matthias Oppelt
© Matthias Oppelt

Was ist das Besondere am Musiktherapie-Studium hier am Berlin Career College der Universität der Künste Berlin?

Dass die Dozierenden sehr praxisnah unterrichten. Das bringe ich mit, habe es aber auch schon vorgefunden. Ich würde sagen, 90% aller Fächer – auch der theoretischen – sind begleitet von praktischen Übungen, Rollenspielen, Videobeispielen. Viele unserer Dozierenden sind Ehemalige, das heißt, sie haben vor vielen Jahren selbst den Diplom-Studiengang absolviert, denn den Studiengang gibt es schon seit 1984. Ich würde sagen, das ist ein Merkmal: Die Alumni sind uns sehr treu.

Was uns sonst noch ausmacht, ist, dass wir ein großes Spektrum an Anwendungsbereichen abdecken: Von der frühkindlichen, der entwicklungspsychologischen Diagnostik über Behandlungsschemen für Kinder und Jugendliche bis zum Erwachsenenbereich; Neurolologie, Neuro-Rehabilitation und schließlich der Alten-Bereich. Meine Kollegin, die Gastprofessorin Prof. Dorothea Muthesius, hat den Schwerpunkt Geriatrie/Gerontopsychiatrie; ich selber decke den Erwachsenen-Psychiatrie/Psychosomatik-Bereich ab. Zusätzlich haben wir künstlerische, also musikalische Fächer. Die Studierenden bekommen Unterricht in Stimm-Improvisation, Klavier-Improvisation, Perkussion und Gitarre und das immer im Hinblick auf die Musiktherapie. Das heißt, der Blick wird erweitert; die Perspektive ändert sich von einer künstlerischen hin zur musiktherapeutischen. Und schließlich gibt es noch den wissenschaftlichen Schwerpunkt. Wir haben eine extrem gute wissenschaftliche Betreuung: Über die ersten vier Semester werden die Studierenden systematisch in wissenschaftliches Arbeiten eingeführt. Viele unserer Studierenden kommen ja aus dem künstlerischen Bereich und haben eigentlich noch nicht wissenschaftlich gearbeitet. Es ist unser Anspruch, vor der Master-Thesis gute Vorarbeit zu leisten. Aber der Schwerpunkt ist schon, gute Praktiker*innen, also richtig gute Musiktherapeut*innen auszubilden, die in verschiedenen Arbeitsfeldern arbeiten können. Das ist unser Hauptaugenmerk.

Welche Eigenschaften zeichnen denn richtig gute Musiktherapeut*innen aus? Was sollten Bewerber*innen wissen, wenn Sie sich für Ihren Studiengang entscheiden?

Gute Frage. Was alle Therapeut*innen ausmachen sollte, sind Beziehungs-, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, das heißt: Man muss gut zuhören können, Sympathie und Empathie entgegenbringen, ein gutes Menschenbild haben und davon ausgehen, dass das Leben wertvoll ist und lebenswert, denn man muss ja auch etwas Positives vermitteln können. Wichtig ist auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik. Das bedeutet auch eine gewisse Dynamik und Flexibilität. Und Kreativität natürlich.Im Bereich der Musiktherapie muss man ziemlich kreativ sein, musikalisch gestalten können, flexibel sein und schnell reagieren können. Man sich auch überlegen: Was ist jetzt für die/den Einzelne*n oder die Patient*innen-Gruppe angemessen? Musik hören, Musik spielen, welche Instrumente? Das heißt, Musiktherapeut*innen müssen sich schnell an die Bedürfnisse des Gegenübers anpassen, statt ein Schema durchlaufen zu lassen. Dabei muss man natürlich die Orientierung und den therapeutischen Faden beibehalten. Bei der Aufnahme- oder Zulassungsprüfung achten wir außerdem darauf, dass die Bewerber*innen sich intensiv mit Musik beschäftigt haben, denn das ist unser Werkzeug. Sie sollten Instrumente spielen können, ein gutes Gehör haben und singen können, aber auch Musikwerke kennen.

„Was alle Therapeut*innen ausmachen sollte, sind Beziehungs-, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, das heißt: Man muss gut zuhören können, Sympathie und Empathie entgegenbringen, ein gutes Menschenbild haben und davon ausgehen, dass das Leben wertvoll ist und lebenswert.“

Susanne Bauer

Sie haben jetzt ja schon einige Krankheitsbilder genannt. Was sind typische Anwendungsbereiche der Musiktherapie?

Vorderreihig und ursprünglich war oder ist die Musiktherapie für Menschen geeignet, die sich verbal nicht ausdrücken können. Das heißt für Menschen mit (geistigen) Behinderungen, Entwicklungsstörungen oder auch Mutismus. Sie wird auch in der Neurologie angewandt, zum Beispiel bei Patient*innen im Wachkoma, wo es keinen verbalen Kontakt gibt, man aber davon ausgeht, dass die Menschen Emotionen haben und diese unbedingt ausdrücken und teilen möchten, es aber auf keine andere Art und Weise können. Da ist die Musik extrem geeignet. Dann in der Psychiatrie, bei Psychosen, Schizophrenie – also den schweren Krankheitsbildern mentaler Erkrankungen, wo die Verbalisierung eher fragmentarisch oder schwierig ist. Da ist die Musik ein Kanal, um mit anderen in Kontakt zu kommen, sich selbst zu spüren, andere zu spüren. Und dann natürlich in der Arbeit mit Kindern. Musik ist für die Kinder sehr attraktiv, die Kinder sprechen sehr schnell und sehr gut auf Musiktherapie an – auch Jugendliche. In den letzten Jahren hat es sich immer mehr entwickelt, Songwriting einfließen zu lassen sowie das Arbeiten mit iPads oder anderen elektronischen Mitteln. Es gibt zum Beispiel Bandprojekte im Präventionsbereich, wo man die Kinder und Jugendlichen gut abholt. Außerdem bearbeiten wir das Thema Demenz, denn auch da ist die Versprachlichung schwierig. Bei Demenzkranken gibt es sehr viele Emotionen, verwirrende Gedanken und Erinnerungsfetzen. Oder die Menschen sind „dysreguliert“, im Affekt: Sie werden plötzlich impulsiv, dann sind sie ganz traurig… Hier kann viel mit Liedern und mit Singen gearbeitet werden zur Stabilisierung, Kontaktaufnahme und Verbesserung der Lebensqualität. Und natürlich sind Autismus und Entwicklungsstörungen in der Musiktherapie große Bereiche, in denen inzwischen auch geforscht wird.

Das heißt, es gab durchaus auch Veränderungen in den letzten Jahren?

Ja, absolut. Die Themen Neurologie oder Parkinson waren früher beispielsweise gar kein Thema. Auch neu ist die Neonatologie, die Arbeit mit Frühchen. Hier geht es um das Bindungsverhalten: Die Mütter sind ja zum Teil erst einmal deprimiert und depressiv, dürfen keinen Kontakt zu den Kindern haben. Sobald das Kindchen auf dem Arm sein kann, nicht nur im Brutkasten sein muss, können Musiktherapeut*innen zwischen Mutter und Kind regulieren, summen und mit leichten Tönen die Verbindung herstellen. Oder es werden Lieder aufgenommen, die die Mutter singt und die dann dem Kind vorgespielt werden, damit es die Mutterstimme hört. Das ist ein neues Terrain, das seit vielleicht 15 Jahren Einzug gehalten hat in die Musiktherapie. Es entwickelt sich. Musik ist einfach universal: eine Sprache für alle Altersstufen.

Und über Grenzen hinweg.

Ja, sie ist interkulturell. Es gibt ja auch musiktherapeutische Projekte mit Geflüchteten. Da gibt es einfach keine andere gemeinsame Sprache, denn es würde den Rahmen sprengen, drei, vier, fünf, sechs verschiedene Sprachen zu dolmetschen. Über Musikangebote kann eine Sprachanbahnung stattfinden. Man kann durch Lieder und Texte die Sprache des jeweiligen Landes, in das der Mensch geflüchtet ist, vermitteln. Oder man holt die Musik der Geflüchteten, Musik aus deren Ländern in die Sitzungen hinein. Das kann identitätsstärkend und wertschätzend sein.

Unsere Arbeit ist jedenfalls immer anders. Es geht darum, zu wissen, was notwendig ist und wo man am besten in Beziehung treten kann, damit die Menschen gern kommen, sich wohlfühlen und vertrauen. Dann kann man auch weitere Dinge machen, die vielleicht für die Person ungewöhnlich sind, so wie improvisieren. Das ist für uns wichtig, weil wir denken, dass in die freie Improvisation vieles von dem einfließt, wie die Person wirklich ist. Feste Lieder sind auch wichtig, aber gerade dieses improvisatorische spricht sehr aus der Seele heraus.

© Anne Kathrin Fritz

Wie hat sich die Corona-Pandemie ausgewirkt – auf die Lehre, aber auch auf das musiktherapeutische Arbeiten?

Corona und Lehre… Das war wirklich kompliziert. Eine unsere Eigenschaften ist es eben, dass wir so oft wie möglich praktische Übungen machen, auch im Theorie-Kontext. Das ist natürlich erst einmal weggefallen. Die ganze Online-Lehre war sehr theorielastig und viele praktische Fächer mussten verschoben werden, sind ausgefallen. Manche Dozierende haben den Instrumentalunterricht online umsetzen können. Aber wir haben ja auch einen Gruppen-Lern-Kontext, das heißt, die Gruppe als solche ist eigentlich immer zusammen. Plötzlich waren alle einzeln hinter dem Bildschirm und es konnten keine Gruppen-Improvisationen stattfinden. Stimmimprovisation konnte gar nicht stattfinden. Es gab einen Rückstau und wir sind immer noch dabei, Termine nachzuholen. Wir haben viel dazu gelernt, aber wir sehnen uns nach Präsenzunterricht.

Was die Patient*innen-Betreuung betrifft habe ich unterschiedliche Informationen. In meiner Klinik haben wir die ganze Zeit durchgearbeitet, haben die Gruppenzusammensetzung umgestellt und die Gruppengröße reduziert. Dann gibt es Kolleg*innen, in deren Klinik oder Abteilung seit der Pandemie überhaupt keine Therapie stattfindet. Und es gibt andere, die es tatsächlich geschafft haben, Musiktherapie online durchzuführen. Das kann ich mir nicht so gut vorstellen, weil wir ja mit unseren Patient*innen improvisieren und spielen. Es gibt demnächst eine Tagung, wie so etwas digital funktionieren kann. Ich finde das sehr befremdlich, weil ich finde, Therapie braucht die Präsenz. Insbesondere die Musik lebt durch die Resonanz und den direkten Kontakt. Aber viele Therapeut*innen wollen den Kontakt wahren und in den Kliniken ist das auch so gut wie möglich umgesetzt worden. Auch das Arbeiten mit Masken ist beschwerlich, weil man den Gesichtsausdruck der Patient*innen nicht wirklich sieht. Wenn sie beschämt sind, wenn sie weinen; ob sie lachen, lächeln… Man erahnt es manchmal, aber man kann sich nicht hundertprozentig sicher sein. Die ganze Mimik entfällt und die Affektregulierungen bekommen wir in dem Fall nicht so gut mit.

„Musik hat etwas sehr Verbindendes. Man musste isoliert sein, aber bei den musikalischen Aktionen gab es eine gemeinsame Instanz, wenn man von den Balkonen aus zusammen gesungen oder diese virtuellen Chöre gesehen hat. Und es gibt auch Berichte von denjenigen, die sagen: Jetzt habe ich endlich mal Zeit gehabt, mein Instrument ordentlich zu üben. Für den Selbstwert ist das nicht zu unterschätzen – die Genugtuung, etwas zu lernen, voranzukommen.“

Susanne Bauer

Sicherlich kann die Musiktherapie in solchen Zeiten aber auch viel leisten?

Ich würde sagen, dass nicht die Musiktherapie, aber das Musizieren an sich in der Pandemie sehr wichtig war. Ich habe von vielen gehört, dass sie mehr Musik machen, dass man wieder Musikinstrumente ausgräbt und lernt. Oder es gab das Balkonsingen… Die Musik verbindet die Menschen. Online können Tausende Menschen das gleiche Stück singen. Das würde ich aber nicht als Musiktherapie bezeichnen, sondern eher als Selbstheilung mit Musik. Dafür bedarf es nicht unbedingt der Unterstützung durch Therapeut*innen.

Wie kann uns Musik in Zeiten großer Verunsicherung helfen?

Durch das Gemeinschaftsgefühl. Musik hat etwas sehr Verbindendes. Man musste isoliert sein, aber bei den musikalischen Aktionen gab es eine gemeinsame Instanz, wenn man von den Balkonen aus zusammen gesungen oder diese virtuellen Chöre gesehen hat. Und es gibt auch Berichte von denjenigen, die sagen: Jetzt habe ich endlich mal Zeit gehabt, mein Instrument ordentlich zu üben. Das ist dann eine Rückbestätigung, wenn man Fortschritte macht. Für den Selbstwert ist das nicht zu unterschätzen – die Genugtuung, wenigstens etwas zu lernen, voranzukommen. Viele haben die Zeit genutzt. Es ist ein wichtiger Aspekt, dass man sich nicht gehen lässt, sich trotzdem Ziele setzt und etwas vornimmt, den Alltag strukturiert. Denn das Zeitgefühl ist uns ja mitunter entglitten.

Musik und Kunst können uns kognitiv und emotional viel bieten – sei es, um sich mit sich selbst zu beschäftigen und Gefühle abzubilden oder auszudrücken, sie mit anderen zu teilen. Für das Selbst ist zum Beispiel auch das Malen sehr befriedigend; Töpfern, Stricken, Häkeln… Alles, was kreativ ist und wo ein Produkt entsteht. Wenn man die Welt nicht mehr versteht, hat man hierüber die Kontrolle. Das erleichtert das Ausgeliefertsein. Musik kann man aber noch besser teilen, denn sie klingt!  

© Berlin Career College

Leider sind wir gerade mir einer weiteren Krise konfrontiert, die uns alle sehr beschäftigt. Eigentlich wollten wir das Gespräch mit der Frage beenden, worauf Sie sich freuen, wenn bald neue Öffnungsschritte in der Pandemie anstehen…

Das ist wirklich schwierig und schrecklich. Wir sind alle absolut ausgebremst. Alle waren euphorisch und nun hat niemand mehr Lust, zu feiern. Ich denke aber, viele Leute besinnen sich gerade darauf, wie gut es uns geht. Die Solidaritätsaktionen sprechen ja auch dafür: Wir können ganz viel geben, wenn wir uns nur zusammentun. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist unheimlich stärkend. Zur nächsten Friedensdemo gehe ich auch. Es ist extrem, wie so eine Situation die Menschen zusammenschweißt. Darüber freue ich mich, bin aber traurig, dass es so einen Anlass braucht, damit alle Parteien plötzlich etwas Gemeinsames entwickeln. Man kann nur hoffen, dass es anhält und wir zukünftig auch weiterhin für andere Themen zusammen auf die Straßen gehen – auch für andere Anliegen wie die Zerstörung der Natur.

Ich hatte mich eigentlich sehr auf Konzerte gefreut und auf das gemeinsame Musizieren. Ich freue mich darauf, wenn wir uns wieder ganz normal begegnen können, ohne Maske. Ich hoffe, dass der Zustand eintritt, aber ich bin zuversichtlich – von Natur aus. Ich vertraue darauf, dass wir auch schwierige Situationen gut meistern.

Lektüre-Tipp: Zu Beginn der Pandemie sprach Frau Prof. Bauer mit niusic.de darüber, wie Musik uns ein emotionaler Anker sein kann.

Weitere Informationen zum Masterstudiengang Musiktherapie


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