Der Zertifikatskurs Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education wurde 2011 am UdK Berlin Career College ins Leben gerufen und startet in diesem Jahr in die siebte Runde. Wir haben mit der norwegischen Kursleiterin Ragnhild A. Mørch über die besondere Kunst des Erzählens, die Entwicklungen im Kurs und die Erfolge der Teilnehmer*innen gesprochen.

Warum ist das künstlerische Erzählen so wichtig? Was ist das Besondere an dieser Kunst?

Ragnhild A. Mørch: Für mich liegt das Besondere an dieser Kunstform an zwei Aspekten. Zum einen geht es um eine für das Erzählen einmalige Dualität, zum anderen sind es drei für das Erzählen gleichwertige Beziehungsebenen.

Um mit den Beziehungsebenen anzufangen: Mündliches Erzählen findet statt in der Triade Erzähler*in, Geschichte, Zuhörer*in – und im Hier und Jetzt sind alle Beziehungsebenen gleichwertig.  Es gibt die Beziehung zwischen mir als Erzählerin und der Geschichte, die ich basierend auf meiner ganz individuellen Persönlichkeit erarbeitet habe und dann live teile. In dem Augenblick des Teilens entsteht die Beziehung zu den Zuhörenden, die wiederum einen Einfluss auf die Geschichte haben. Da das freie Erzählen nicht an ein festes Manuskript gebunden ist, kann die Geschichte an die jeweilige Erzählsituation angepasst werden – ob durch spontane Änderungen sprachlicher Bilder, persönliche Kommentare oder, abhängig von dem Programm, dem kompletten Wechsel einer Geschichte. Die Beziehungsebene der Zuhörenden zur Geschichte liegt an der eigenen inneren Ausformung der Erzählung. Jede*r einzelne Zuhörende wird vor dem inneren Auge einen eigenen, individuell ausgeformten „Film“ sehen, genauso, wie es seiner oder ihrer Lebenserfahrung und Phantasie entspricht. Die drei Beziehungen zwischen Werk, Schaffenden und Erlebenden sind also gleichwertig in ihrer Gewichtung. Und diese besondere Art von Verwobenheit in Zeit, Raum, Ausformung und Beziehung gibt es meines Erachtens nach in anderen Kunstsparten nicht.  Bei einem Buch, einem Gemälde oder einer CD ist das Werk von der Person, die es geschaffen hat, losgelöst und kann unabhängig von der schaffenden Person in Zeit und Raum erlebt oder betrachtet werden. Bei Live-Events, zum Beispiel im Theater oder bei einem Konzert, ist die Beziehung der Künstlerin oder des Künstlers zum Werk nicht so stark an das zu dem Abend spezifische Publikum gebunden. Und vorsichtshalber nachgefügt: Darin liegt keinerlei Wertung. Kunst wäre nicht so mannigfaltig, wenn es diese Unterschiede nicht gäbe.

Die Dualität entsteht für mich aufgrund der Tatsache, dass die Geschichten durch die Präsenz der Erzählenden zeitgleich sowohl in der „physischen Realität“ als auch in der Imagination entstehen und existieren. Nicht umsonst sagen Zuhörer*innen oft, sie hätten sich während der Erzählvorstellung –wie in einer Art Traum – weit weg transportiert und gleichzeitig aber vor Ort im Beisammensein mit den Erzählenden und dem Publikum gefühlt.

In einer Zeit, in der wir sehr vielen äußeren, schnellen Impulsen ausgesetzt sind (z.B. über Handy, Medien, Nachrichten etc.) und die uns zudem noch in den meisten Fällen voneinander isolieren, empfinde ich das als enorm wichtig: Einen Moment lang sind wir, im zweifachen Sinn, gemeinsam in einer Geschichte, treten in Beziehung und tauchen in eine scheinbar„langsamere“ Welt ein.

Was sind Deine Lieblings-Erzählstoffe, mit denen Du gern arbeitest?

Ragnhild A. Mørch: Die Erzählstoffe, mit denen wir in der Weiterbildung arbeiten, sind zum größten Teil traditionelle Stoffe, die im Ursprung mündlich überliefert wurden: Mythen, Sagen, Märchen, Legenden – später erfolgte die Überlieferung natürlich vor allem schriftlich. Sie tragen eine ganz andere Symbolkraft in sich als „Alltagsgeschichten“, denn in diesem Material liegt ja eine Menschheitsgeschichte. Sie stammen ursprünglich aus der Mündlichkeit und haben dadurch dramaturgische sowie sprachliche Prozesse durchlaufen, die die Rückübertragung in die Mündlichkeit erleichtert. Ich persönlich erarbeite am liebsten abendfüllende Programme, in denen ich Autobiografisches, Traditionelles und Historisches miteinander verbinden kann. Das ist mein Steckenpferd. In der Verwebung traditioneller Geschichten mit Realem entstehen für mich neue und verschiedene Ebenen, die sich ohne Verknüpfung nicht manifestieren – weder in dem einen noch in dem anderen.

Ragnhild A. Mørch, Foto: © Foto: Milan Soremski

Die Weiterbildung „Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education“ gibt es jetzt bereits 12 Jahre. Was hat sich im Laufe der Zeit entwickelt? Spielen gesellschaftliche Veränderungen auch eine Rolle?

Ragnhild A. Mørch: Es gibt tatsächlich einige Veränderungen und Erweiterungen. Zum Beispiel schauen wir bewusster auf die in den traditionellen Erzählstoffen vermittelten Bilder. Ein Charakteristikum der Märchen sind Stereotype und klare Gegensätze: Gut und Böse, Reich und Arm, Stark und Schwach. Das Genre lebt davon. Historisch und gesellschaftlich bedingt, entstehen da natürlich auch problematische Bilder – seien es sexistische, rassistische oder ableistische Bilder oder der Fokus auf Heteronormativität.  Als Erzählende kommen wir nicht darum herum, die Geschichten und die Botschaften, die die Bilder vermitteln, genau anzuschauen und auch zu ändern, falls notwendig. Das ist wiederum eine große Stärke der Kunstform. Gerade weil Geschichten aus der Mündlichkeit in der Übertragung ins Heute geändert werden können, können sie gezielt Themen der Gegenwart aufgreifen und sehr politisch sein. Aus demselben Grund nehme ich in diesem Jahr an einer Weiterbildung zum Thema Social Justice und Diversity teil. Meiner Ansicht nach haben wir, die wir in der Schnittstelle Kunst und Pädagogik tätig sind und viele Erzähler*innen mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, da eine besondere Verpflichtung – und so möchte ich gerne dafür Sorge tragen können, dass das in der Weiterbildung stark verankert ist.

Auch sind Geschichten aus der persischen und arabischen Tradition im Curriculum hinzugekommen. Sie sind ein Teil der Gesellschaft geworden und das Kennenlernen dieses großen Reichtums, der im deutschsprachigen Kontext größtenteils unbekannt ist, ist ein wichtiger Zusatz im Kurs.

Was sich im Rahmen der Weiterbildung auch verändert hat, ist die Tatsache, dass vermehrt öffentlich erzählt wird. Die Teilnehmer*innen können sich während der Weiterbildung und in Begleitung von dem Dozent*innen-Team vor unterschiedlichen Publikumsgruppen erproben – sei es durch Kindervorstellungen, Erzählvorstellungen in Institutionen oder Erzählungen für ein öffentliches Publikum. Die Lehrenden erzählen selbst auch, so dass die Kursteilnehmer*innen die künstlerische Arbeit der Lehrenden direkt erleben und sich konkret über ihre Stücke und ihren Erzählstil mit ihnen austauschen können.

Die Erzählpädagogik haben wir im Curriculum erweitert, denn Erzählen als Darstellende Kunst ist so viel mehr als eine Kunst der Bühne: Viele Erzähler*innen wollen sich bewusst auf das Erzählen mit Kindern und Projekte in Schulen konzentrieren.  Zum Beispiel ist das Erzählen ideal, um Zweitsprachen zu vermitteln: Körper, Mimik, Gestik unterstützt die gesprochene Sprache, zu der möglicherweise der Zugang noch fehlt. Auch bild- oder objektgestütztes Erzählen erleichtert es den Kindern, der Geschichte zu folgen und Teilhabe an ihr zu erleben, wenn sie der zu erlernenden Sprache noch nicht so mächtig sind. 

Als direkte Anknüpfung daran: Welche Rolle spielen die verschiedenen Sprachen unterschiedlicher Herkunftsländer beim Erzählen?

Ragnhild A. Mørch: In den letzten Jahren hat sich die Arbeit am bilingualen Erzählen sehr intensiviert – auch im internationalen Erzähl-Milieu ist das zu beobachten. Im Kurs ist es für uns wichtig, dass die Teilnehmer*innen Techniken für das bilinguale Erzählen kennenlernen: allein oder auch im Tandem mit zwei verschiedenen Sprachen. Es ist eine tolle Art und Weise unterschiedliche Hörgewohnheiten zu etablieren und die Neugier auf andere Sprachen zu wecken. Auch bei einem erwachsenen Publikum sind es Körpersprache, Gestik und Mimik, die das Verständnis der Erzählung unterstützt. Seit 2020 gibt es am Humboldt Forum die für Berlin einzigartige, bilinguale Erzählserie „Geschichtentheater“ für Familien, bei der man regelmäßig bilingualen Erzählungen lauschen kann. Durchgehend wird die deutsche Lautsprache mit einer zweiten kombiniert, sei es u.a. Portugiesisch, Koreanisch, Italienisch, Norwegisch, Deutsche Gebärdensprache oder Nord-Tiroler Dialekt. Die Meisten der beteiligten Erzähler*innen sind Alumni oder Dozent*innen unserer Weiterbildung am UdK Berlin Career College. Die Rückmeldungen vom Publikum sind grandios, und mehrsprachige Familien melden oft zurück, dass es für ihre Kinder, die bilingual aufwachsen, ansonsten keine ähnlichen Angebote gibt.

Eine weitere bilinguale Mini-Serie für Erwachsene gibt es dieses Jahr im Theater o.N. in Berlin: eine Alumna und inzwischen Dozentin der Weiterbildung, Kathleen Rappolt, initiierte drei Abende mit Vorstellung und einem nachfolgenden Austausch. 

Für wen ist Eure Weiterbildung – woher kommen die Teilnehmer*innen – und in welchen Bereichen liegen die Arbeitsfelder von ausgebildeten Erzähler*innen?

Ragnhild A. Mørch: Die Gruppen sind meistens sehr heterogen. Einige kommen aus der Theaterpädagogik und möchten selbst Erzähler*innen werden. Es gibt auch Teilnehmer*innen, die das Erzählen in ihren vorhandenen Berufen nutzen wollen – darunter hatten wir z.B. Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Museumspädagog*innen, Stadtführer*innen und eine Pfarrerin. Es sind oft Menschen aus Berufen, in denen das Erzählen ein Teil des Alltags ist. Es gab auch Teilnehmende, die nach einem aktiven Berufsleben mit dem Erlernen der Erzählkunst einen neuen Weg gegangen sind und zum Teil ehrenamtlich an Schulen und in Willkommensklassen erzählt haben. Und dementsprechend wird das Erzählen dann auch nach der Weiterbildung ganz unterschiedlich genutzt.

Ich freue mich darüber, dass wir Teilnehmer*innen und Alumni haben, die mit vollem Einsatz in das Erzählen eingestiegen sind – manche sogar noch während der Weiterbildung den Schritt in die Selbständigkeit als hauptberufliche Erzähler*in gewagt haben. Das ist tatsächlich ein Wagnis, denn die Kunstform ist noch immer nicht allgemein bekannt. Somit wachsen Erzählaufträge nicht auf Bäumen, sondern, um mal in Bildern zu bleiben: Der „Auftragsacker“ muss meistens erst selbst gepflügt und bepflanzt werden, um dann die Ernte einfahren zu können.

Dafür gibt es dann aber auch inzwischen umfangreiche Erfolgsgeschichten zu verbuchen: Vor sieben Jahren gründete eine Alumna mehrere zertifizierte Weiterbildungen im Erzählen in Istanbul und publiziert inzwischen zum Erzählen. Zudem gibt es Preis- und Wettbewerbs-Gewinnerinnen, Newcomer bei verschiedenen Erzähl-Festivals und mehrere Alumni, die international unterwegs sind. Eine Alumna ist außerdem derzeit in Kenia als Stipendiatin bei „kulturweit tandem“ tätig, dessen Projektfokus auf Bildung, Kultur und Menschenrechten liegt und den direkten Austausch mit Erzähler*innen in Kenia ermöglicht. Im Anschluss wird sie hier in Berlin in der Kulturinstitution Oyoun arbeiten. Ich bin sehr gespannt auf ihre Erfahrungen!

Im Zuge der jetzt endenden Weiterbildung wurde außerdem ein Praktikum für eine für den Kurs neue Zielgruppe durchgeführt. Das Hauptziel dabei war es, Menschen mit einer Sehbehinderung oder geburtsblinden Menschen das Erzählen anhand der Merkmale der primären Mündlichkeit zu vermitteln. Gemeint sind Merkmale der Mündlichkeit in Kulturen, die keine Schrift hatten. Das war für mich ein spannender Ansatz, da ich ja literarisiert bin, immer auch auf Schrift zurückgreife und mein Denken von der Schrift geprägt ist, wie Walter Ong gut beschrieben hat. Das zeigte mir erneut, wie das Erzählen und die erzählpädagogische Arbeit zu Perspektiverweiterung einladen kann. Ich habe auf jeden Fall ganz neue Denkansätze bekommen und meine Lebenserfahrung aus einem neuen Blickwinkel beleuchten können.

Und dies verknüpft sich dann mit einer der Besonderheiten des Erzählens, um auf die erste Frage zurück zu kommen: durch die ganz persönliche Involvierung der Erzählenden mit den Geschichten, die dieser Kunstform zugrunde liegt, entstehen einzigartige Zugänge zum Erzählten, zum Arbeiten mit den Geschichten und zu Verbindungen von Menschen untereinander. Erzählen ist demokratisch und ermöglicht Teilhabe, ungeachtet einer individuellen, gesellschaftlichen Position. Das ist in unserer Gesellschaft, die auf allen Ebenen von struktureller Diskriminierung und ungleichen Machtverhältnissen geprägt ist, eine unglaubliche Chance zur Veränderung. Für mich persönlich bedeutet das: Wenn ich gewillt bin, mich selbst in (post-kolonialer) Geschichte und Gesellschaft zu positionieren und dabei lernen kann, den Erzählungen Anderer zuzuhören – und somit Perspektivenvielfalt Raum zu geben – dann kann ich, idealerweise, auch durch das Erzählen aktiv dazu beitragen, die bestehenden Machtverhältnisse zu verändern.

Manche der Geschichten kommen dann irgendwann auch auf eine Bühne.

Herzlichen Dank für das inspirierende Gespräch!

Die nächste Ausgabe des Zertifikatskurses Künstlerisches Erzählen – Storytelling in Art and Education beginnt am 15. September 2023.

Informationen zur Weiterbildung finden sich auf der Kurs-Website und hier:
www.udk-berlin.de/ziw/kuenstlerischeserzaehlen


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