Eine Reise gemeinsam mit dem Bundespräsidenten anzutreten – diese Ehre wurde Prof. Dr. Susanne Bauer zuteil: Im vergangenen März begleitete sie Frank-Walter Steinmeiers Lateinamerikareise als Sondergast. Wie es zu der Einladung kam, was sie dort erlebte und warum sich die Reise trotz schwerer Themen manchmal anfühlte, wie eine Klassenfahrt, erzählt sie im Interview.

Schon seit 2008 leitet Susanne Bauer den Masterstudiengang Musiktherapie am Berlin Career College der UdK Berlin. Neben ihrer Arbeit als Musiktherapeutin ist sie unter anderem als Diplompsychologin tätig.

Berlin Career College: Anfang März hast Du den deutschen Bundespräsidenten Steinmeier auf seiner Lateinamerikareise nach Chile begleitet. Anfang der 2000er hast Du einige Jahre als Psychologin bei der dortigen Sekte Colonia Dignidad gearbeitet. Wie kam es dazu, dass der Bundespräsident Dich für seine Reise als seine Begleitung angefragt hat?

Susanne Bauer: Ich vermute, dass sie auf mich gestoßen sind, weil ich in der Colonia Dignidad gearbeitet habe. Zwischen 2005 und 2008 habe ich im Rahmen eines Psychotherapieprogramms des deutschen Außenministeriums die Opfer der Sekte vor Ort dort betreut. Zu diesem Zeitpunkt war Steinmeier Außenminister. Auf der Reise jetzt ging es vor allem darum, dort eine Gedenkstätte für die deutschen und chilenischen Opfer der Sekte aufzubauen, um räumlich zu markieren, was sich damals abgespielt hat. Die Geschehnisse sind bis heute nicht aufgearbeitet, und es gibt noch immer Menschen, die dort wohnen. Viele von ihnen sind von mir ehemals betreute Opfer, Traumatisierte. Da stellt sich die Frage: Wie kann man die Gedenkstätte mit denen, die noch dort leben, verbinden? Dafür war unter anderem meine Meinung gefragt.

Was war Deine Rolle bei dieser Reise?

In Chile gab es zwei wichtige Termine, bei denen ich dabei war. Der erste war im Museo de la Memoria. Das ist ein Museum, das eigentlich den Opfern der chilenischen Diktatur gewidmet ist. Im Rahmen der Reise wurde dort jetzt ein Ableger des Oral History Archives von der FU Berlin eröffnet. Gleichzeitig fand in dem Museum ein Roundtable mit deutschen und chilenischen Opfern der Sekte statt. Ich sollte dort berichten, was ich damals während meiner therapeutischen Arbeit erlebt habe. Wir haben dann diskutiert, was diese neue Gedenkstätte für die dort noch lebenden Menschen bedeutet und wie man mit diesen Menschen umgehen sollte. Leider waren wir aber nicht direkt auf dem Gelände der Colonia Dignidad, da es zu weit weg gewesen wäre.

Das heißt, Du warst unter anderem beratend dort?

Beratend ist vielleicht zu viel gesagt. Zum einen habe ich etwas über die Historie unseres Projektes erzählt. Zum anderen konnte ich auch meine Meinung zur Gedenkstätte abgeben. Wo ich zum Beispiel noch Bedarf sehe, ist bei der Aufarbeitung des Traumas. Diese 40-jährige Erfahrung ist noch lange nicht bewältigt, was auch auf die neuen Generationen überschlägt. Das bedeutet, dass man sich nicht nur weiterhin um die damaligen Opfer kümmern sollte, sondern auch um deren Kinder. Der Roundtable war auch insofern wichtig, als dass es das erste Mal war, dass ein Präsident – in diesem Fall der deutsche Präsident – sich direkt um dieses Thema kümmert.

Hast du in diesem Kontext auch Leute wiedergetroffen, mit denen du damals schon zusammengearbeitet hast?

Es war eine Person dabei, die ich schon von meiner Arbeit seit 2005 kannte. Im Vorfeld der Reise hatte ich außerdem Kontakt mit ehemaligen Betreuten aufgenommen, um einen Eindruck über den Stand der Dinge zu bekommen. Aktuell plant der chilenische Präsident, bestimmte Gebäude der Sekte zu enteignen, damit dort die Gedenkstätte erbaut werden kann, allerdings leben dort noch immer Leute, die diese Räume als Aufenthaltsräume oder als Gemeinschaftsräume nutzen. Ich habe dann nachgefragt: Wie erlebt ihr das jetzt? Ich wollte von den Betroffenen wissen, wie man sie in den Diskurs um die Gedenkstäte mit einbeziehen sollte.

Wie war es für Dich, nach so langer Zeit wieder in Chile zu sein?

Es ging natürlich hauptsächlich von Termin zu Termin, aber ich fand es trotzdem sehr anregend und schön, in diesem Kontext nochmal über das Thema nachzudenken. Wir waren tatsächlich an vielen Orten, die ich damals oft besucht habe und die ich gut kannte. Insofern hat es sich sehr vertraut angefühlt, immerhin habe ich 18 Jahre dort gelebt. Jetzt als Begleitung des Bundespräsidenten dort zu sein, hat dem Ganzen natürlich eine ganz neue, vielleicht distanziertere Perspektive verliehen.

Du hast schon gesagt, es war ein sehr durchgetaktetes Programm. Wie lief die Reise ab und welche „Stationen“ gab es?

Die Lateinamerikareise ging von Freitag bis Donnerstag. Wir waren eine Gruppe aus sechs Sondergästen, die ein „Sonderprogramm“ bekommen haben, wenn wir nicht bei den Terminen des Präsidenten dabei sein durften. Los ging es in Uruguay. Dort waren wir im Skulpturenpark einer der berühmtesten Bildhauer Uruguays, Pablo Atchugarry. Vor zwei Jahren wurde der Park vom Architekten Carlos Ott um ein Kulturzentrum erweitert, in dem wir empfangen wurden. Am nächsten Tag sind wir nach Asunción, Paraguay geflogen. Für den formellen Teil des Programms waren wir im Regierungspalast zum Essen eingeladen. Das Spannendere waren aber die kulturellen Aktivitäten: Wir waren in einem Armenviertel in Asunción, wo es eine Musikinitiative für Kinder gibt. Dort wurden wir von einer Gruppe von Kindern empfangen, die für uns musiziert und getanzt haben, das war wunderschön! Danach ging es in die Goethe-Schule, eine deutsche Schule im reicheren Viertel, wo wir auch sehr liebevoll empfangen wurden mit deutschen Liedern und deutschen Fähnchen, also wie man sich das so vorstellt, wenn ein deutscher Präsident mit seiner Delegation kommt.

Die dritte Station war dann Chile. Da ging es zuerst ins Heidelberg Center, das ist ein Fortbildungszentrum der Uni Heidelberg, wo verschiedene Zertifikatskurse und Diplomkurse für Medizin, Psychologie und Rechtswissenschaften stattfinden. Dann waren wir in der Deutschen Schule Santiago zu Besuch, wo wir wieder musikalisch empfangen wurden – die Stimmung auf dem Schulhof war wie auf einem Volksfest! Nachmittags fanden der Besuch im Museo de la Memoria und der Roundtable statt. Am Abend waren wir in der Residenz der deutschen Botschafterin, wo es wieder ein Kulturprogramm gab.

Am nächsten Tag waren wir in der Universidad de Chile, dort gab es zwei Vorträge: einen von einer unserer Sondergäste, Prof. Dominika Wylezalek, eine junge Astrophysikerin aus Heidelberg, und den zweiten von einem der Nobelpreisträger in Physik 2020, Professor Reinhard Genzel. Danach wurden wir noch in der Moneda, dem Regierungspalast, empfangen. Am Abend ging es in die Atacama-Wüste zur Sternwarte auf dem Cerro Paranal. Nirgends ist der Sternhimmel so klar wie dort. Wir hatten also einen freien Blick auf die Milchstraße und verschiedene Sterne. Das war einfach beeindruckend und ein großes Privileg, weil man normalerweise nur als Astrophysiker*in in die Sternwarte darf.

Am Donnerstag ging es dann schon zurück nach Deutschland. Das Programm war wirklich sehr dicht, aber auch ein schöner Mix aus Kultur, Politik und Wissenschaft.

Um nochmal auf die deutsch-chilenische Beziehung zurückzukommen: Hast Du das Gefühl, dass die Leute, die damals aus Deutschland in die Colonia Dignidad nach Chile gekommen sind, jetzt dort integriert sind?

Tatsächlich ist die Integration schwierig. Zwischen 2005 und 2010 sind mehrere Deutsche aus der Sekte heraus und weiter in den Süden Chiles gezogen, wo traditionell viele Deutsche mit Bauernhöfen oder landwirtschaftlichen Betrieben leben. Dort haben manche versucht, sich Jobs zu verschaffen – handwerkliches und landwirtschaftliches Arbeiten hatten sie ja in der Sekte gelernt. Aber viele hatten und haben Schwierigkeiten, in der „normalen“ Realität Bestand zu halten, nachdem sie Jahrelang, oder sogar ein Leben lang den Regeln und der Gehirnwäsche in der Sekte ausgesetzt waren.

Du arbeitest hier in Deutschland auch als Musiktherapeutin. Warum konntest Du damals nicht musiktherapeutisch mit den traumatisierten Bewohner*innen  arbeiten?

In erster Linie war es nicht mein Auftrag, musiktherapeutisch zu arbeiten, da ich damals als systemische Psychologin dort arbeiten sollte. Tatsächlich habe ich es trotzdem zweimal mit Musiktherapie versucht – beide Male ist es fehlgeschlagen. In der Sekte wurde Musik nämlich oft missbräuchlich genutzt. Paul Schäfer leitete mehrere Musikgruppen, Chöre und Orchester, deren Ziel es immer war, Menschen in die Falle zu schlagen. Zum Beispiel stellte Schäfer die Musik ständig um, sodass immer jemand etwas falsch machte – und dann dafür bestraft wurde. Auch viele Kinder waren davon betroffen.

Außerdem gab die Sekte in der Pinochet-Zeit viele große Auftritte, zum Beispiel vor den Militärs, die speziell dafür eingeladen wurden. Auch da war der Druck enorm: Man musste so spielen, dass das Publikum am Ende erstarrte, anstatt gleich zu applaudieren. Wenn das nicht gelang, wurden nachher alle bestraft.

Es gibt auch viele Beispiele, wo Schäfer seine Macht über Musik ausgespielt hat: Kinder mussten auf die Katzenbank oder wurden von ihm aus dem Chor geschmissen. Das war die schlimmste Strafe für sie, nicht zur Gemeinschaft zu gehören.

Und deshalb gingen meine musiktherapeutischen Versuche schief. Das freie Improvisieren, mit dem ich sonst arbeite, war gar nicht möglich, weil die Menschen es gewohnt waren, dass man ihnen Aufgaben stellte. Sie konnten nicht selbstständig, intuitiv musizieren, denn sie waren in der Sekte immer nur ausführende Menschen gewesen, die Handpuppen von Schäfer sozusagen. Diese innere Freiheit wiederherzustellen, ist ein langer Therapieprozess, und ich weiß nicht, ob es möglich ist, diese Verbindung zur Musik wieder umzubesetzen. Zumindest war während meiner Arbeit damals alles viel zu frisch, noch zu traumatisiert. Ein paar positive Beispiele gibt es trotzdem: Ich weiß von einigen Pateinten, die zurück in Deutschland mit Musik arbeiten, zum Beispiel als Instrumentallehrer*in oder als Musikpädagog*in.

Herr Steinmeier sagte im Anschluss der Reise: „Die Aufarbeitung der Geschehnisse in der Colonia Dignidad bleibt ein zentrales Anliegen für Deutschland.“ – Warum denkst Du ist das so wichtig?

Darauf habe ich eine ganz klare Antwort: Weil es von Seiten der deutschen Politik ein Riesenversäumnis war und ist, nicht rechtzeitig zu intervenieren. Seit Ende der der 60er Jahren wusste man, wo Paul Schäfer sich befand. In Deutschland war er wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen verurteilt. Damals gab es natürlich noch keine Auslieferungsverfahren, aber es ist eben auch unterlassen worden – und das jahrzehntelang. Erst 2004, fast 15 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Ära, hat die deutsche Botschaft eingegriffen. Man hätte schon viel früher verhandeln können, wie man mit ihm umgehen sollte. Da saß jemand, der war straftätig und man hatte Beweise dafür. Es hätte wirklich viel Leid vermieden werden können, deshalb steht man in der Schuld dieser Menschen. Ich denke, es ist wirklich noch ein großer Auftrag und ich weiß nicht, wie man dem gerecht werden kann. Die Einrichtung der Gedenkstätte zur Anerkennung der Opfer ist ein sehr wichtiger Schritt. Aber natürlich wollen die Menschen dort auch finanziell entschädigt werden, weil sie damals keine Gehälter bekommen haben und daher keine Renten bekommen. Es ist ein sehr komplexes Thema und ich finde es gut, dass man sich kümmert. Unser Psychotherapie-Programm war ein erster kleiner Schritt, der aber der natürlich bei Weitem nicht ausreicht.   

Um die Reise Revue passieren zu lassen: Was nimmst Du persönlich von der Reise mit?

Was ich von unserem Besuch in Chile mitnehme, ist nochmal der Eindruck dieser Zwiespältigkeit bezüglich der Deutschen in Südamerika: Sie haben einerseits viel Gutes getan, aber auch viel Schaden angerichtet. Die Chilenen dachten, die Deutschen seien alle gute Menschen, fleißig und verantwortungsbewusst. Sie könnten doch keine bösen Menschen sein. Auch Paul Schäfer hat Anerkennung erfahren, nur, weil er Deutscher war. Dadurch gibt es da diese Verwirrung. Durch die Reise bin ich mir einfach nochmal bewusstgeworden, wie viele Vorurteile es in beide Richtungen gibt. Ich fände es sehr wichtig, hier nochmal Fakten zu schaffen.

Vor allem habe ich mich aber sehr geehrt gefühlt. Es war wirklich etwas ganz Besonderes, eine Wirklichkeit kennenzulernen, die man einfach vorher nicht kannte. Das fand ich berührend, bewegend und bereichernd. Tatsächlich war ich auch von der Nähe zu unserem Bundespräsidenten und seiner Frau erstaunt. Von der ersten Begrüßung über das gemeinsame Biertrinken im Restaurant bis zur Verabschiedung im Flugzeug haben wir ihre Offenheit und Zugewandtheit ständig gespürt. Unter uns sechs Sondergästen wiederum war eine Stimmung wie auf einer Klassenfahrt: das Gefühl, wir erleben gerade etwas ganz Besonderes. Und das versuchen wir jetzt zu bewahren. Dieses Erlebnis teilen nur wir, und das ist finde ich etwas sehr Schönes.

Alle Fotos: © Susanne Bauer

  1. Quelle: „Einleitung“. In Colonia Dignidad. Neue Debatten und interdisziplinäre Perspektiven, Hg Stefan Rinke, Dorothee Wein, Philipp Kandler. Campus Verlag Frankfurt/New York, 2023. ↩︎

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